Martin Ebel

Laudatio auf Thommie Bayer bei der Verleihung des Thaddäus-Troll-Preises 1992 in Stuttgart - Allmende 36/37, 13. Jahrgang, 1993

Meine Damen und Herren,

die Handlung aller Opern kann man ja in der bekannten Formel zusammenfassen: Ein Tenor liebt einen Sopran, ein Bariton hat was dagegen, am Ende liegen jede Menge Leichen herum. Bei Thommie Bayer geht es anders, besser aus. Da liebt ein schüchterner Mann eine schöne Frau und kriegt sie am Ende auch. Jedenfalls trifft das auf die beiden jüngsten Romane unseres Preisträgers zu, “Das Herz ist eine miese Gegend” aus dem vergangenen und “Spatz in der Hand” aus diesem Jahr. Über diese beiden will ich auch vor allem sprechen. Nichts gegen die anderen! Da ist der stark autobiographische Erstling “Eine Uberdosis Liebe” und das Freiburger Kultbuch “Einsam, Zweisam, Dreisam”, da sind die "Szenetypen" und die “Künstlertypen”, da ist schließlich die `Turnschuh-Bibel´ mit dem schönen doppeldeutigen Titel “Die frohe Botschaft abgestaubt” - da wird der Staub vom Neuen Testament gewischt und zugleich dienen die biblischen Sätze als Vorlagen, als Pässe, die der Abstauber Bayer aufnimmt, um sie in Tore, in Pointen zu verwandeln. Von all dem soll hier nicht die Rede sein. Auch nicht von den Liedertexten, die er geschrieben, von den Bildern, die er gemalt, den Langspielplatten, die er aufgenommen hat: Das alles sprengt jeden Rahmen, den einer ordentlichen Schriftstellervita mindestens und einer fünfzehnminütigen Preisrede allemal.

“Das Herz ist eine miese Gegend” und “Spatz in der Hand” also - die beiden Werke haben gewiß auch den Ausschlag dafür gegeben, daß Thommie Bayer heute den Thaddäus-Troll Preis erhält. Preisen muß man zuallererst die Jury. Sie hat Mut bewiesen. Sie hat sich für einen Autor entschieden, dessen Bücher sich leicht und gut lesen. Mit denen man sich amüsieren kann. In denen man sich verlieren kann. In denen man sich wiederfinden kann. Die man, oh Graus, sogar schlicht “konsumieren” kann. Die einem, wenn diese Anleihe bei der Turnschuh-Sprache erlaubt ist, gut “runtergehen”.

Das freut den Leser. Aber wenn der Leser auch ein Literaturwissenschaftler ist, möchte er wissen, was ihn daran freut. Warum er diese Bücher gut findet. Und er beginnt nachzudenken. Es kommen ihm allerlei Skrupel und Bedenken, und wir wollen helfen, die auszuräumen - damit sein Lesevergnügen ein ungetrübtes sei.
Erstens, fragt er sich: Ein Mann, der eine Frau liebt und sie auch kriegt, eine Liebesgeschichte mit Happy-End also, ist das nicht trivial? Nun, unser Literaturwissenschaftler hat eine große Bibliothek, und die ist natürlich voller Liebesromane. Und wenn er die Reihen zurückgeht bis ins Altertum, dann stößt er auf “Daphnis und Chloe” von Longos, aus dem 3. Jahrhundert nach Christus, und, ebenso alt, auf Heliodors “Athiopika”, die “Abenteuer von Theagenes und Charikleia”, den Prototypen der Gattung geradezu. Da lieben sich ein Mann und eine Frau, standhaft und unerschütterlich, und sie werden dauernd gestört, getrennt, gefährdet: Durch Seeräuber und Banditen, Naturkatastrophen und andere Unglücksfälle. Sie verlieren sich, finden sich wieder, verlieren sich erneut und fallen sich zum guten Ende in die Arme. Der Widerstand, der dem Liebesglück entgegengesetzt wird - und der nötig ist, damit es überhaupt eine Liebesgeschichte zu erzählen gibt kommt von außen; er hindert zwei Menschen, die zueinander wollen, mit handgreiflichen Mitteln, zusammenzukommen.

Unser Literaturwissenschaftler kennt sich auch in der Theatergeschichte gut aus. Und da fällt ihm Marivaux ein, ein berühmter französischer Dramatiker des 18. Jahrhunderts. In seinen Komödien wissen die Liebenden noch nicht, daß sie zueinander wollen; der junge Mann liebt das Mädchen, glaubt aber, daß er ihr gleichgültig ist und wagt deshalb seine Liebe nicht zu erklären. Er trägt seinerseits eine gleichgültige Fassade zur Schau. Die wiederum bemerkt sie und zieht ihre Schlüsse daraus - Sie können sich denken, welche. Ein anderes Paar ist von den Eltern füreinander bestimmt und möchte sich nun auf echte Zuneigung prüfen. Er verkleidet sich als Diener, sie als Zofe ohne daß es der eine vom anderen weiß. Auch hier können Sie sich vorstellen, was alles passiert, bis das Paar sich endlich gefunden hat. Hier sind die Widerstände nicht mehr äußerlicher, sondern psychologischer Art. Die Liebe selbst, die Vergewisserung der eigenen Gefühle und der des anderen, ist zum Problem geworden.

Wir nähern uns der Gegenwart. Wir nähern uns Thommie Bayer der, nehme ich an, mehr von der amerikanischen Screwball-Comedy beeinflußt ist als von Heliodor oder Marivaux. Auch in der Screwball-Comedy geht es ja um verwechselte Identitäten und verwirrte Gefühle, um das Herz, das hofft, und den Verstand, der zweifelt. Kein Terrain ist so unsicher wie das der sich entspinnenden Liebe, auf keinem wird mit so viel Finten und Täuschungen, Hinterhalten und Umgehungsmanövern gearbeitet. Und damit sind wir mitten in Thommie Bayers Romanen. “Das Herz ist eine miese Gegend” erzählt, wie Giovanni seine Laura findet, sie wieder verliert und am Ende - das über das Romanende hinausgeschoben ist - endlich bekommt. Was dazwischen steht, sind äußere Hindernisse: Eltern, die verbieten, Entfernungen, die trennen, der “Verräter” - auch eine klassische Figur. Es sind aber vor allem innere Hindernisse: Sich verkennen, sich verfehlen, sich mißverstehen. Und noch eins kommt dazu, etwas ganz Typisches für Thommie Bayer: so stark die Emotion von innen nach außen drängt, der “hormonelle Autopilot” sich äußert, so sehr hält ihn der Verstand am Zügel. Nicht nur, weil es dem Verstand nun mal eigen ist, Zügel anzulegen und Zügel anzuziehen, sondern weil diesen Emotionen nicht mehr zu trauen ist. Kommen sie wirklich von innen, aus mir, fragen seine Helden, oder aus dem Film, den ich gerade gesehen habe, aus dem Buch, das ich gelesen, ist es nur ein Abdruck, den ich empfinde, ein Abklatsch? Und welche Worte dafür finden, die nicht dutzendfach, hundertfach, tausendfach schon benutzt wurden, abgenutzt sind, Dutzendware also und unvereinbar mit dem, was ich fühle, was nur meins ist? “Schade, daß es immer nur Klischees gibt, gerade für die besonderen Erlebnisse”, denkt Sabine im “Spatz in der Hand”.

Aber wer heute Liebesgeschichten schreibt, sieht sich von Klischees umstellt. Er darf weder so tun, als gäbe es sie nicht - das wäre naiv -, noch darf er die Gefühle an die Klischees verraten, indem er sie kurzerhand gleichsetzt - das wäre zynisch, Dazwischen die Balance gefunden zu haben, das Herz nicht an den Verstand zu verkaufen und den Verstand nicht ans Herz, an die großen Gefühle zu glauben und dafür keine großen Worte zu brauchen, sondern die gängige Münze unseres Alltags, immer die Hand an der “Ergriffenheitsbremse”: Das ist eines der großen Kunststücke von Thommie Bayer.

Unser Literaturwissenschaftler wirkt erst einmal überzeugt. Ein anderes allerdings stört ihn jetzt, und vielleicht nicht nur deshalb, weil es sich um einen Wissenschaftler, also einen Mann, handelt. Thommie Bayers Helden, dieser Giovanni Burgat, dieser Carl Stowasser, sind sie nicht vor lauter Schüchternheit allzu passiv, lassen sie sich nicht schlichtweg an der Nase führen von den starken Frauen; sind es nicht Softies?

In der Tat: Giovanni hat in seiner Laura nicht nur eine souveräne Führerin durch das Dickicht der ersten Liebe; sie bestimmt, wer sich wann wieweit auszieht, wo angefaßt werden darf, wann es wieweit zu gehen hat. Sie behält auch später die Initiative, beim Bruch wie bei der behutsamen Wiederannäherung über den Ozean hinweg. Und Carl Stowasser ist seiner Sabine in noch hilfloserer Weise ausgeliefert. “Was immer sie ihm bieten würde, er würde akzeptieren”, sagt er sich selbst, und gesteht sich seine Abhängigkeit auch ein: “Die hat was von einer Domina, dachte er, die hält dich hin”.
Dabei weiß er noch nicht einmal alles, was wir wissen, daß nämlich das Gefälle noch viel größer ist. Sabine hat ihn bei ihrem ersten Telefonat gesehen, ohne selbst gesehen zu werden, sie kennt seine Identität, ohne die eigene offenbaren zu müssen. Das Verhältnis hat hier so schwere Schlagseite, daß es selbst Sabine mulmig wird: “Mein lieber Mann, dachte sie, was man für eine Macht über jemanden haben kann, Eigentlich bin ich ziemlich gemein”.

Das findet auch unser Literaturwissenschaftler, und um ihn wieder für Thommie Bayer zu gewinnen, müssen wir ihn auf eine weitere Bildungstour schicken, diesmal tief ins Mittelalter, nach Südfrankreich zu den Troubadours. Dort, wo an den Fürstenhöfen im 12. und 13. Jahrhundert eine Dichtung entstand, deren Sprach- und Denkfiguren die europäische Literatur bis ins Barock und weit darüber hinaus geprägt haben, dort pflegte man einen ganz besonderen Kult: Die Verherrlichung der unerreichbaren Frau. Der Troubadour lobte in seinen hochkomplizierten Gedichten die Makellosigkeit seiner Erwählten und beklagte zugleich ihre Unerreichbarkeit. Das eine war Voraussetzung für das andere, je weiter weg die Geliebte, desto intensiver die Gefühle und die Worte des Liebhabers. Natürlich handelte es sich dabei um ein soziokulturelles Spiel, bei dem die tatsächlichen feudalen Machtverhältnisse umgekehrt wurden, aber es gibt einen doppelten psychologischen Mechanismus wieder, der nun nicht zeitgebunden ist und den jeder von uns kennt: Wenn wir verliebt sind, statten wir das Objekt unserer Verliebtheit mit den herrlichsten Eigenschaften aus - und halten es konsequenterweise für undenkbar, daß es sich aus dieser Höhe für uns interessieren könnte. Zum zweiten hat diese Anbetung aus der Ferne, diese Kultivierung der Sehnsucht eine ganz eigene Süße, die mit der Erfüllung unserer Hoffnungen unwiederbringlich dahin ist. Verständlich, daß jemand, der diesen Mechanismus kennt, die Annäherung an das verehrte Objekt, die Stürmung der Festung ein klein wenig verzögert. Und schließlich, wird unser Literaturwissenschaftler einwerfen, entspringt dieser Verwirrungs- und Erwartungsphase immer mal wieder: Literatur.

Natürlich kennt Thommie Bayer diesen Mechanismus auch. Aber seine Helden kennen ihn nicht - oder er hat sie ihn vergessen lassen. Jedenfalls erleben sie ihre Liebesgeschichten so, als sei es das erste Mal: Mit aller pubertären Verwirrung, mit allen Komplexen, allen Selbstzweifeln, allem Staunen, das zu dieser großen ersten Erfahrung gehört. Sein Giovanni darf diese Erfahrung gar zweimal machen: Das erste Mal, als der Fünfzehnjährige von der Sechzehnjährigen in die Liebe eingeführt wird. Das zweite Mal, viele Jahre und zahlreiche Frauen später, fiebert er dem Wiedersehen und dann der endgültigen Verbindung so entgegen, als sei er wieder fünfzehn. Auch Carl Stowasser, der sich ja sichtlich den 40 und einer Vollglatze nähert, ist bei seiner Sabine wieder ganz der kleine Junge. Thommie Bayer schenkt die Aura des ersten Mals auch den Erfahrenen, den Abgebrühten, den Enttäuschten und den Verstörten - und überträgt sie auf den Leser. Und beide werden davon verjüngt.

Gut, meint der Literaturwissenschaftler, der - das habe ich vergessen zu sagen - wie Thommie Bayer durch die politisch bewegte Zeit nach 1968 gegangen ist und gelernt hat, nach der gesellschaftlichen Relevanz zu fragen. Das ist zwar längst nicht mehr modern, hat sich aber auf manchen Universitäten in liebenswürdiger Weise gehalten. So fragt er also: Ist das nicht allzu privat, was dieser Thommie Bayer schreibt - Liebesglück und Liebesleid, eine kleine Wohnung in Tübingen oder ein Ferienhaus auf den Kanaren: Idylle, fern unserer kriegerischen Welt? Diesmal müssen wir nicht in die Bildungskiste greifen, um ihn zu überzeugen: Wir brauchen nur zurückzufragen: Wenn schon die Historiker die Alltagsgeschichte entdeckt haben und sich nicht mehr nur mit Feldzügen oder sozioökonomischen Krisen beschäftigen, sondern mit Leidenschaft erforschen, wie sich die Altvorderen gekleidet, geschminkt, geliebt haben: Warum soll diese “Geschichte von unten” ausgerechnet dem Romancier verwehrt sein?

Denn genau das, eine “Geschichte von unten”, ist Thommie Bayers Literatur auch. Und es ist nicht abwegig, daß spätere Geschichtsschreiber einmal auch seine Bücher als erstklassige Quelle benutzen, um die Erlebniswelt unserer Tage zu rekonstruieren. Denn wie man heute liebt und lebt, unter Dreißig- bis Vierzigjährigen im bürgerlich-akademisch-künstlerischen Milieu, progressiv, aber desillusioniert, voller Skepsis, aber unerschütterlich an seinen Sehnsüchten festhaltend, an deren Erfüllung man kaum zu glauben wagt: Das kann man kaum irgendwo präziser, treffender beschrieben finden als in Thommie Bayers Büchern.

Was dabei so genau trifft, ist die Sprache. Die seine - und die seiner Personen. “Die Sätze klingen so echt, als hättest Du sie selber gesprochen oder jemandem abgelauscht”: Was die Fernsehredakteurin Sabine über die Dialoge des freien Autors Carl sagt, es könnte ein Selbstzitat Thommie Bayers sein - wenn er nicht so bescheiden wäre. Er kann zuhören, und er kann nachmachen. Und mit dem Nachmachen fängt alles Schöpfertum, um einmal ein großes Wort zu benutzen, an. Auch ein Marcel Proust hat mit Stilparodien, mit Pastiches, begonnen (unser Literaturwissenschaftler nimmt Habacht-Stellung an) und Thommie Bayers Porträts, die von “Typen” und “Künstlern”, sind zweifellos ein exzellentes Exerzierfeld.

Vom bloßen Abbild, von den vielen Büchern über “Szenesprache”, deren einziger Reiz im Wiedererkennen liegt, unterscheidet er sich durch das Danebentreten, das für seine Figuren typisch ist. “Was sage ich denn da”, fragen sich seine Helden meist, wenn sie etwas besonders Kluges oder Dummes, Romantisches oder Freches gesagt haben. Denn auch die Sprache ist ein trügerischer Grund, auch sie muß ständig darauf überprüft werden, ob sie das, was wir fühlen, überhaupt erfassen kann. Und aus diesem Wissen, daß alles schon gesagt, alles schon gelebt ist, daß man aber trotzdem leben und sprechen muß und will, als hätte es da vorher nichts gegeben: Daraus schlägt Thommie Bayer Funken und Kapriolen.

Wir haben unseren Literaturwissenschaftler etwas aus den Augen verloren; er hat sich kurz in eine Ecke verzogen und schmökert. Doch da kommt er noch einmal, ihm ist ein letzter Einwand eingefallen. Ist das nicht alles zu einfach runtererzählt? fragt er, zu geradeaus, ohne die Erkenntnisse der modernen Erzähltechnik zu berücksichtigen? Nein, sagen wir, ist es nicht. Natürlich sind “Das Herz ist eine miese Gegend” und “Spatz in der Hand” nicht avantgardistisch verkünstelt, sind sie leicht zu lesen und wollen es sein - jeder Simmel ist schwerer. Und doch, und ganz unangestrengt, hat Thommie Bayer ein bei allen Literaturwissenschaftlern hochgeschätztes Konstruktionsmittel der Moderne in seine beiden neuen Romane eingebaut. Es ist die von Andre Gide so genannte “Mise en abyme”, die Selbstbezogenheit. Der Roman, dekretiert die neue Literaturtheorie, tut nicht mehr so, als bilde er Realität ab, sondern er reflektiert sich selbst, spielt mit der eigenen Realität, entlarvt sich als Literatur. Das ist eine Haltung, die Thommie Bayers freundlicher Skepsis, seiner Neigung zur Ironie und Distanz gegenüber allen plakativen Aussagen entgegenkommt. Und es ist bezeichnend für ihn, daß diese Selbstreflexion in einer geradezu beiläufigen Form eingearbeitet ist. So bildet der Roman “Das Herz ist eine miese Gegend” eine Endlosschleife, schreibt der Held Giovanni am Schluß den Roman, den er eben gelebt hat, gleichen die letzten Sätze des Buches seinen ersten aufs Haar. Und so wiederholt sich die Handlung von “Spatz in der Hand” im Inneren, entwerfen Sabine und Carl ein Drehbuch mit eben jener Liebesgeschichte, die sie zusammengeführt hat. Diese Romane (und das ist nicht einmal ein Argument gegen sie) halten jedem Proseminar stand - obwohl man ihnen den Eingang ins Proseminar nicht wünschen sollte.

Haben wir unseren Literaturwissenschaftler überzeugt? Es scheint so. Er lächelt, setzt die Brille ab, entrunzelt die Stirn, und da kommt plötzlich ein Leser zum Vorschein, der sich die Romane Thommie Bayers endlich mit gutem Gewissen “reinziehen” kann. So schwer kann man sich das Vergnügen machen. Dabei hat Thommie Bayer es uns doch so leicht gemacht. Vielen Dank.